Charlotte Christoph Lemke (1937–2019)
Eine Gedenkrede von Ernst v. Borries
Wir erinnern uns heute an Frau Charlotte Christoph-Lemke, die rund 12 Jahre am Obermenzinger Gymnasium als Diplompsychologin tätig war und die Schule wie keine zweite mitgeprägt hat und der ich persönlich viel verdanke.
Charlotte Christoph hat in ihrem Fach so ziemlich alles erreicht, was man außerhalb der Universitätskarriere erreichen kann: Sie war Fachpsychologin für klinische Psychologie, Psychotherapeutin, Superviserin und Ausbilderin von Therapeuten und schließlich Vizepräsidentin des Weltverbands für Transaktionsanalyse. Und so großartig das klingt und auch sein mag: vor allem war sie ein warmherziger, einfühl-samer, liebensfähiger und liebenswerter Mensch. Charlotte war groß gewachsen, schlank, blond – eine schöne Frau.
Ich lernte Charlotte Christoph kennen, als ich 1973 nach dem Tod meiner Mutter das damalige Privatgymnasium Dr. Chmiel, das heutige Obermenzinger Gymnasium übernommen hatte. Die Nachfolgerin meiner Mutter, Charlotte von Schwartz, hatte sie eingestellt, nachdem es schon vorher, im Sommer 1972 erste Kontakte mit meiner Mutter gegeben hatte. Damals gab es Ausbildung und Institution des Schulpsychologen an bayerischen Gymnasien noch nicht, aber der Bedarf war natürlich da (ist es heute noch).
Anfang der siebziger Jahre war das Thema Legasthenie quasi in aller Munde. Die Erkenntnis, dass ein Kind zwar Mühe haben konnte, lesen und schreiben zu lernen, aber dennoch hochbegabt war, faszinierte die Menschen und gab vielen, Eltern wie Schülern, wieder Hoffnung. Nicht von Lesen und Schreiben abhängige Intelligenztests wurden entwickelt und erste wirksame Therapien. Eine der ersten und wichtigsten Aufgaben für Charlotte war die Betreuung von legasthenischen Schülerinnen und Schülern in unserm Haus, und wie Charlotte überhaupt die allererste Psychologin war, die je an einem bayerischen Gymnasium gearbeitet hat, hielt sie auch die ersten Legasthenikerkurse an einem bayerischen Gymnasium. Mit diesen Kursen war Charlotte sehr erfolgreich. Das ging so weit, dass das Kultusministerium, das aus verschiedenen Gründen damals die Legasthenie als Teilleistungsstörung noch nicht anerkannte, bei mir in einzelnen Fällen anrief, ob wir diesem oder jenem Kind nicht helfen könnten.
Charlottes Erfolg bei den Kindern beruhte, abgesehen natürlich von ihrer Intelligenz, ihrem Einfühlungsvermögen und ihren Fachkenntnissen, vor allem auf ihrer wunderbaren Fähigkeit, durch Zuhören und Sich-Zuwenden Vertrauen aufzubauen. Und da sie mit allen Kindern in ihren Kursen vorher und dann immer wieder auch Einzelgespräche führte, hatten alle zu ihr eine besondere Beziehung, wohl die bestmögliche Grundlage für eine erfolgreiche Legasthenikertherapie, haben doch diese Kinder meistens ein Martyrium von Misserfolgen, Zurückweisungen, Verachtungen hinter sich, das ihren Glauben an sich selbst beliebig gering werden ließ.
Charlotte, die in ihren USA-Aufenthalten die Grundzüge des damals in Entwicklung befindlichen Classroom-Managements kennen gelernt hatte, gab diese Kenntnisse bei Supervisionen im Unterricht an die Kollegen weiter, auch beriet sie Eltern in den vielfältigsten Erziehungsfragen, die nicht selten auch Beziehungsfragen der Eltern waren usw. usw.
Es dauerte nicht lange, bis sie viel von ihrem Denken in die Schule implementiert hatte, nicht zuletzt hat sie mich damals überzeugt, dass zu einer erfolgreichen Pädagogik ein gerüttelt Maß an Psychologiekenntnissen gehört.
Wir haben in diesen Jahren unendlich viele Gespräche geführt, ich habe sehr viel von ihr gelernt, und wir haben eine enge Freundschaft aufgebaut und uns in manchen schweren Zeiten gegenseitig beigestanden. Charlotte hatte aus erster Ehe einen Sohn Alexander, der unter sehr tragischen Umständen ums Leben kam. Dein Vater, Lothar, war damals schon durch einen Unfall querschnittsgelähmt. Und als ich erfuhr, dass Charlotte und Bertram auch noch für Alexander gebürgt hatten, als der sich eine Existenz aufbauen wollte, hatte ich extreme Angst, sie könnte diese Kette von Unglücken und Problemen vielleicht nicht durchstehen. Sie war damals wohl auch sehr weit unten, aber Charlotte war niemand, der aufgeben wollte. Es ist gut, wenn man in Notzeiten Freunde hat, aber die Kraft, sich langsam, aber sicher wieder aus dem Dunkel herauszuarbeiten, muss man in sich selbst finden, kann man nur in sich selbst finden. Charlotte fand schließlich zu Mut und Kraft zurück, wurde in den Vorstandsetagen von Großfirmen wie z.B. BMW, als Beraterin tätig und schaffte es innerhalb eines guten Jahres, aus der Notlage wieder heraus zu sein.
Charlotte hatte als Gesprächs- und Verhaltenstherapeutin begonnen, doch genügten beide Methoden ihr bald nicht mehr. Wenn es wirklich ernst wurde, halfen sie ihr zuwenig und zu langsam. Noch in der Zeit an meiner Schule begann sie sich, mit Gestaltpsychologie zu beschäftigen. Doch auch die war in ihrer Emotionalität für sie zu einseitig. Sie wandte sich dann der Transaktionsanalyse zu, einer psychotherapeutischen Methode, die in ihrer ausgewogenen Mischung aus analytisch-verstandesmäßiger Arbeit und intensiver Emotionalität ihr das Richtige schien. Sie war auch hier, wie vorhin schon erwähnt, sehr erfolgreich.
Nach Bertrams Tod lebte sie hier in der Paradiesstraße und hatte gleich im Nachbarhaus ihre Praxis. Wir haben uns in diesen Jahren nur noch selten gesehen, immer wieder telefoniert immerhin.
Was uns vorbestimmt ist, wissen wir nicht, auch nicht, wie unglücklich ein Mensch in diesen Jahren der geistigen Verdunkelung ist oder wie glücklich er dort sein darf. Ich wünsche von Herzen, dass diese Zeit ihr eher leicht gefallen ist.
Die Begegnung mit Charlotte Christoph gehört zu den großen Glücksfällen meines Lebens. Ich habe sie bewundert, respektiert natürlich, war und bin stolz auf ihre Freundschaft und ich werde ihr immer dankbar sein.
Möge ihr die Erde leicht werden.
München, im März 2020
Ernst v. Borries